Täglich werden Tausende von Rollstuhlfahrern in Deutschland von professionellen Fahrdiensten befördert, zum Beispiel zur Schule, zur Arbeit oder zum Arzt. Die Fahrzeuge, die dafür genutzt werden, die sogenannten Kraftfahrzeuge zur Beförderung mobilitätseingeschränkter Personen (KMP), sowie deren Ausstattung müssen bestimmte Anforderungen für die nicht-private Beförderung erfüllen.
Diese Anforderungen werden in Deutschland in der DIN 75078 – Teil 1 & 2 geregelt. Teil 1 beschäftigt sich mit den Anforderungen an das Fahrzeug, während Teil 2 die Sicherung des Rollstuhls und dessen Nutzer zum Thema hat. Die DIN 75078 hat im Kern die gleichen Anforderungen an das Testprozedere des Personen- und Rollstuhlrückhaltesystems wie die ISO 10542, die in der restlichen Welt die bestimmende Norm ist. Die deutsche DIN 75078 wurde allerdings im Laufe der Zeit mit ein paar zusätzlichen Anforderungen ausgestattet.
Fehlanwendungen verursachen erhebliche Schäden
Der Hauptunterschied zwischen den beiden Normen liegt in der Aufnahme des sogenannten Kraftknotensystems in die DIN. Dieses System beinhaltet einen rollstuhlintegrierten Beckengurt sowie speziell angefertigte Adapter am Rollstuhl zur verwechslungsfreien Befestigung der Rollstuhlhalterungen am Rollstuhl. Ein fahrzeugseitiger Schulterschräggurt komplettiert das System.
Der große Vorteil dieses Systems ist die dramatisch verbesserte Fehlervermeidung bei der Anwendung des Personen- und Rollstuhlrückhaltesystems. Das herkömmliche ISO-System verursachte sehr viel häufiger Fehlbedienungen, angefangen beim falschen Anlegen des Beckengurtes bis hin zu Fehlern bei der Befestigung der Rollstuhlanbindung an nicht dafür geeignete Bauteile des Rollstuhls. Dieses Risiko spiegelte sich sehr deutlich in allen vorhandenen Unfallberichten wider, wurde aber auch bei Kontrollen von Fahrzeugen erschreckend oft festgestellt.
Heavy Duty-Retraktoren für maximale Sicherheit
Das Kraftknotensystem schafft hier deutlich mehr Sicherheit. Befestigungsösen geben die Verankerungspunkte vor, der Beckengurt liegt perfekt über den Beckenknochen und der Schulterschräggurt findet die richtige Anbindung, ohne in Kollision mit dem Rollstuhl zu sein. Aus technischer Sicht erforderte die Umsetzung der DIN 75078 die Notwendigkeit der Entwicklung von stärkeren Rollstuhl-Retraktoren für die Sicherung des Rollstuhls. Sind im ISO-System die Kräfte, die auf das Personen- und Rollstuhlrückhaltesystem einwirken, größtenteils getrennt, liegt die Last bei einem beckengurtintegrierten System komplett auf den beiden hinteren Retraktoren. Aus diesem Grund ist hier der Einsatz von Heavy Duty-Retraktoren notwendig. Diese sind etwas größer als herkömmliche Retraktoren und besitzen eine spezielle Kennzeichnung, um etwaige Verwechslungen auszuschließen.
Welche Testanforderungen gibt es an dieses System?
Ein DIN 75078 entsprechendes System muss mit 20 G Beschleunigung auf einer dynamischen Schlittenanlage getestet werden. Selbstverständlich dürfen bei dem Test keine Bauteile zerstört werden. Das Gurtschloss muss sich nach dem Test noch öffnen lassen und der Dummy darf nur eine Vorverlagerung innerhalb der Vorschriften aufweisen. Die Abspannwinkel sind definiert, die Boden- und Wandbefestigungspunkte müssen der späteren Einbausituation entsprechen. Im Fahrzeug sind die Verankerungspunkte am Boden sowie an der Fahrzeugwand im Vorfeld in der jeweiligen Fahrzeugkarosserie statisch zu prüfen.
Im Idealfall handelt es sich bei dem Rollstuhl zudem um ein geprüftes Modell nach ISO 7176-19. Der Rollstuhl hat ein Testgewicht inklusive Dummy von 160 kg. Bei dieser Testanordnung hat man ein geprüftes Personen- und Rollstuhlrückhaltesystem, geprüfte Verankerungspunkte im Fahrzeug und einen 20 G geprüften Rollstuhl. Das wäre nahezu perfekt!
Worauf ist bei der Befestigung im Fahrzeug zu achten?
Die sich jetzt in Überarbeitung befindliche Norm DIN 75078 beinhaltet zudem einen deutlich im Fahrzeug sichtbaren Aufkleber (pro Rollstuhlplatz). Der Aufkleber weist auf die Verwendung von Heavy Duty-Retraktoren hin und zeigt darüber hinaus, wo der Rollstuhl samt Nutzer platziert werden sollte, um einen sicheren Verlauf des Schulterschräggurtes zu gewährleisten.
Was sind die nächsten Schritte für mehr Sicherheit?
Um die enormen Kräfte bei einem Auffahrunfall besser abzufangen, sind im Markt bereits Kopf- und Rückenstützen für Rollstuhlinsassen erhältlich. Diese sorgen, ähnlich wie Kopfstützen im PKW, für deutlich mehr Sicherheit. Es wäre der nächste logische Schritt bei der Überarbeitung der DIN 75078, diese Systeme mit aufzunehmen.
Last but not least sind natürlich gut geschulte und verantwortungsbewusste Mitarbeiter wichtig. Diese müssen sich jeden Tag bewusst machen, dass Ihre Sorgfalt bei der Befestigung des Rollstuhls und dessen Insassen im Ernstfall einen wesentlichen Unterschied für die Sicherheit ausmacht.
Alle Bilder: © AMF-Bruns GmbH & Co. KG – Stand: 09/2021